Zum Beispiel: Ein junger Japaner im Mantel bläst ins Halbdunkel den Rauch einer Zigarette, die uns verborgen bleibt. In seiner Hand eine Dose, in den Ohren Kopfhörer, weiße Drähte, die im Innern seines Jacketts verschwinden, an der Krawatte vorbei. Er ist einer, der wartet. Einer, der sich verschließt: die Augen gesenkt, im Mund das Gemisch aus Softdrink und Rauch, im Ohr akustischer Ersatz. Er kann uns nicht hören. Der Rauch verunklärt sein Gesicht, lässt die eine Hälfte mit dem schmutzig weiß überstrahlenden Hintergrund verschwimmen. Ein Videobild, nein, ein Bild von einem Videobild: Die angegriffenen Konturen, das „kranke Blau“, der Vorhang der Zeilen. Entwirklicht. Der Moment, den Stuke wählt, ist kein gesehener.
Der Moment ist technisch, aus der Phase genommen. Ein Bild aus dem Strom. Ein doppelt medialisierter Augenblick. Eine Wirklichkeit, zu der kein Weg zurückführt. Alles an dem Mann ist bereit zur Veränderung. Gefährdete Gegenwart. Gefährdet auch durch unsere Aneignung. Dieses „Noch nicht” des jungen Japaners ist typisch für Stukes Personal. Sie versammelt Agenten einer Halbwelt, die sich im Kontext unserer Gedanken verwirklichen möchten. Es geht um eine Ästhetik der Latenz, die den Betrachter zum Antizipator macht. Die Bilder ernähren sich von unserer Deutung. Ihre Neutralität muss verletzt werden. „Was ist geschehen?” „Was denkt er?” „Wohin geht sie?” „Erkennt er sie?” „Wie weiter?”
Stukes Bilder setzen sich in unserem Kopf in Bewegung. Sie befinden sich im Fluss, dazwischen.
„Könnte sein” nennt Stuke ihre Bilderfolge. „Könnte sein”, das heißt: es gibt nur vorläufige Ergebnisse. „Könnte sein” das meint die Wirkung-Ursache-Romanze, zu der wir unser Leben fälschen. Wir kennen nie den ganzen Zusammenhang.
Vielleicht ist das Wesentliche immer schon geschehen? Oder geschieht immer dann, wenn wir blinzeln, abgelenkt sind, schlafen. Rekonstruktion ist unser Schicksal. Deshalb ist Stukes Konjunktiv eine Provokation. Vielleicht war alles anders? Könnte sein.
Was ist wirklich? Jedes Bild stellt diese Frage, jeder Satz, vielleicht jede menschliche Regung. Jeder Versuch einer Antwort ist persönlich, oder besser: eine Frage der eigenen Gegebenheiten, unwillkürlich. Die Antwort wohnt in uns. Wir sind die Antwort. Und zugleich bleibt alles in der Schwebe. Leben und Vorstellung berühren sich nur scheinbar. Wir produzieren Vorstellung, und so beweist sie sich. Wie könnten wir je unseren eigenen Zusammenhang verlassen? Wir sind immer Partei.
Darum also sind wir so versessen auf Bilder. Süchtig. Die Idee von Gegenwart soll sich konkretisieren. Die Zeit soll plan, soll Fläche werden, auf der wir uns bewegen können. Der Augenblick als eine Eisbahn, auf der wir Bahnen ziehen. Alle bildgebenden Verfahren zehren von dieser Täuschung. One moment in time. Was ist die kleinste Einheit? Sind Bilder Atome unserer Realitätsproduktion? Wir sind süchtig nach Bildern, weil sie uns fehlen = weil sie „unmöglich” sind. Jedes Bild impliziert eine unendliche Anzahl an
Nichtbildern. Nicht-ausgewählte Momente. Die Dinge jenseits des Ausschnitts. Das zeitliche Davor und Danach. Jedes Bild entsteht hierarchisch.
Ein Bild wertet, trennt die Welt auf in sichtbar und unsichtbar, wichtig und unwichtig. Seine Autorität baut auf den verbotenen, unterdrückten, unsichtbaren Bildern. Bild = Zensur Es gibt keine einsamen Bilder. Es gibt nur auserwählte. Jedes Bild hat eine Richtung, wird bestimmt von Interessen. Aber die Mischung aus Gelegenheit und Technik, Impuls und Absicht, Neugier und Zufall ist unentwirrbar. Wir kennen das Bild nicht, das wir produzieren, nicht bevor wir es sehen und auch nicht danach. Jedes Bild ist fremd und muss fremd bleiben – deshalb brauchen wir es. Wir sind nicht das Bild.
In der Historienmalerei erscheint die Vergangenheit als ein Gewebe entscheidender Augenblicke. Diese Rhetorik des Wendepunkts beherrscht bis heute unsere Bildproduktion. „Der Mantel der Geschichte…” Katja Stuke filmt Hinterköpfe, Mützen, Schritte, Blicke, Gesten: unwillkürliche, ungeführte menschliche Äußerungen. Ja, sie filmt. Sie benutzt Bewegtbildtechnologie, eine Videokamera, aber das ist zweitrangig. Mit „Filmen” ist eine Kategorie der Wahrnehmung gemeint, unabhängig vom Gerät. Es geht um einen Zustand, nicht um den Moment. Es geht um fortgesetztes Sehen – nicht um Wendepunkte.
In einem zweiten Schritt werden aus den Aufnahmen „Bilder”. Katja Stuke fotografiert Halbbilder, vom Monitor. Eine Methode von Gefühl und Verstand, Umarmung und Fingerzeig, Aufnahme und Wiedergabe.
Zum Flüchtigen gesellt sich die Analyse. Stuke hält den Fluss an, um etwas anderes zu sehen.
Unter den Bildern sind Filmszenen und Computerspiele. Warum fügen sie sich so nahtlos in die anderen Arbeiten? Haben sie nicht (andere) Autoren? Entstammen sie nicht einer Halbwelt, hergestellt, konstruiert, errechnet?
Katja Stuke reiht sie ein in unsere Wirklichkeit, weil sie dazugehören. Weil jedes Bild „nur” ein Bild ist. Diese Gleichsetzung der Fiktionen ist ein Affront gegen die von Authentifizierung besessene Fotografiegeschichte. Aus dem „ich bezeuge es” ist ein „es bezeugt sich” geworden. Ein Bild ist eine Unterscheidung, setzt also andere voraus. Nichts weiter. Zum Beispiel: Ein junger Japaner im Mantel… Christoph Hochhäusler, Regisseur