Es gibt ein Foto von Katja Stuke aus einem Projekt, das Jahre zurück liegt. Das Bild zeigt einen roten Vorhang, mehr eine Gardine, die einen winzigen Spalt breit geöffnet ist Dieses Bild symbolisiert nicht nur allgemein einen Beginn, von einer Vorstellung, Aufführung, Inszenierung o.ä. Es leitet ganz subtil über zu Stukes nachfolgenden Projekten.
Damals, 1999, bewegte, sie sich als wandelnde Ausstellung durch den öffentlichen Raum. Sie stellte nicht nur ihre Arbeiten, sondern gleich ihre ganze Person zur Schau. So konnte eine direkte Begegnung mit dem Betrachter stattfinden. Eine direkte Kommunikation wurde möglich,ohne den Filter eines Galeristen, Museums oder Magazins.
Im Laufe der Jahre hat sich der Fokus in Stukes Arbeiten bzw. in ihrer Art zu arbeiten gewandelt. Sie ist nicht mehr selber Teil des Projekts, der Inszenierung, sondern konzentriert sich auf ihr unbekannte Individuen. Der Zufall spielt eine große Rolle, ist aber so weit geplant, dass Stuke ihr Projekt nicht aus der Hand gibt. Sie observiert und selektiert ihre Umgebung bzw. das, was sie zu ihrer Umgebung, zum aktuellen Fokus ihres Interesses macht Die Portraitserie Olympia aus dem Jahr 2004 scheint fast wie eine Zwischenstation zu aktuelleren Projekten, Stuke fotografiert ihre Protagonistinnen vom TV-Bildschirm ab, wählt den Ausschnitt, der für sie interessant ist. Die im Close-up abgebildeten Turnerinnen wissen, dass alle Augen auf sie gerichtet sind, in der Halle und vor den Fernsehapparaten, Dennoch gelingt es ihnen, in völliger Konzentration in sich zu ruhen. Das Abfotografieren dieser Szenen vom Bildschirm ist die einzige Möglichkeit, so nah an diese Mädchen heran zu kommen. Das Abfilmen, in dem Fall allen bewusst, bietet eine fotografische Ebene, die tiefer ist als das, was man bei einer direkten Gegenüberstellung erreichen würde.
Der nächste Schritt in Stukes Fotografie gibt ihr noch mehr Kontrolle über ihre Arbeiten. Sie filmt selber und Selektiert später in ihrem Atelier die Szenen und Ausschnitte, die sie verwenden will. Durch das Abfotografieren vom Bildschirm bleibt der Videoeffekt, die Struktur des Bildschirms, erhalten und erweitert die Fotografie um eine neue Ebene.
Im Gegensatz zu „sich selber zur Schau stellen“ nutzt Stuke nun die Tatsache für sich aus, dass in unserer heutigen Zivilisation so gut wie alles überwacht wird oder werden soll» Die Menschen schauen sich nicht um auf der Straße, wenn sie aufgenommen werden. Sie merken es meist gar nicht. Stuke kann unauffällig in der Masse untergehen. Sie ist Teil der sie umgebenden Menschen und kann so unbemerkt Jeden aufnehmen, der ihren Weg kreuzt. Zunächst scheint dieses Vorgehen zufällig und wahllos, doch spätestens bei der Endauswahl in ihrem Atelier wird das Aufgenommene sortiert und konkretisiert.
Serien oder Gruppen von Bildern sind auch in ihrem Buch „Könnte sein“ auszumachen. Hierfür kombiniert Stuke ihr eigenes Film-Foto-Material mit Szenen aus Filmen und Computerspielen. Schneller als man ahnt, verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Fiktion. Die Bilder sind Fragmente aus Szenen, aus bewegten Momenten isoliert. Es spielt keine Rolle mehr, wer wen spielt, was tatsächlich passiert, was inszeniert und was komplett virtuell entstanden ist.
Wo geht dieser Mann hin? Was hat er gerade gemacht? Eilt erzur Mittagspause? Oder geht er nach Hause? Könnte sein. Könnte sein, dass das Schicksal unsere Wege lenkt und uns wie an Fäden durchs Leben führt.
Warum sollen wir überwacht werden? Auf der Straße, in der U-Bahn, am liebsten noch bei der Arbeit? Fühlen wir uns dadurch sicherer? Oder haben wir noch mehrAngst? Nicht nur davor, dass schreckliche Vorahnungen Wirklichkeit werden, sondern dass wir unschuldig in das Spinnennetz dieser Maschinerie geraten.
Mit ihren Portraits von Hinterköpfen kehrt Stuke diese ganzen Intentionen ad absurdum. Was bringt eine Aufnahme von einem Hinterkopf, einer Mütze oder Kapuze, wenn die Person identifiziert werden soll? Der eingangs erwähnte rote Vorhang, der nur einen Spalt freigibt auf das, was dahinter verborgen ist, vereint diese Aspekte in einfachster Form. Man sieht etwas, doch eigentlich sieht man nichts. Es gibt nichts zu sehen, nichts zu erkennen oder zu erfahren. Alles fließt vorbei. In einem Tempo, das die Grenze zwischen Realität und Fiktion verwischt.
Das Cover des 96seitigen Buches „Könnte sein“ von Katja Stuke zeigt dann auch direkt eines der Hinterkopfportraits. Eine Person mit einem schwarzen Kapuzenpullover, er oder sie.wendet sich gerade zum Gehen. Auffällig ist der Strichcode, der sich direkt über der ISB-Nummer ungewöhnlicherweise auf der Vorderseite befindet und nicht versteckt auf dem Buchrücken. Hier beginnt sie schon, die Katalogisierung und Überwachung.
Nach wenigen Seiten taucht erneut ein Vorhang auf. Diesmal weiter geöffnet und halb transparent Auf der gegenüberliegenden Buchseite das Portrait einer Frau – von hinten. Da sind wir schon mittendrin im Geschehen, in der Verknüpfung der Welten, Die Frau aus dem Hitchcock Film fügt sich nahtlos an den Blick aus einem Fenster in Osaka. In der Realität könnten diese beiden Aufnahmen nicht weiter voneinander entfernt sein. Doch die Realität haben wir schon verlassen.
Wir sind unserem eigenen Urteilsvermögen überlassen. Könnte sein. Im weiteren Verlauf der ca, 80 Farbfotografien stößt man immer wieder auf solche Bildkombinationen, die zugleich überraschen und selbstverständlich sind. Ein umfangreicher Text von Christoph Hochhäusler und Textsammlungen von Katja Stuke unterstützen die Bilder, ergänzen das Visuelle ohne erklärend sein zu wollen.
Katja Stuke lebt in Düsseldorf, wo sie gemeinsam mit Oliver Sieber seit ca. 10 Jahren das unabhängige Fotomagazin Frau Böhm realisiert. „Könnte sein“ ist ihre erste Publikation beim Schweizer Verlag Kodoji Press. Verena Loewenhaupt, PHOTONEWS